Germar Claus Graffiti Ikone aus Leer

Als Graffiti-Künstler hat Germar Claus seit Mitte der 90er Jahre die Region mit seinen Werken mit geprägt. Umgeben von seinen beruflichen Einflüssen hat der im Design- und Marketingbusiness tätige Farbenthusiast Werke geschaffen, die stark von seinen Wurzeln und Erfahrungen geprägt sind. Sein künstlerisches Schaffen ist mehr konzeptionell als frei und spontan. Die Verbindung zur ostfriesischen Kultur und den Menschen ist Teil einiger seiner Arbeiten. Zusätzlich bleibt er den kulturellen Wurzeln des sogenannten „Stylewritings“ treu und verbiegt Buchstaben zu einer schwungvollen Komposition, für Außenstehende der Szene nicht zu entschlüsseln, trotzdem reizvoll und ästhetisch. Sein Künstlername „Shake“ findet sich in seinen freien Arbeiten wieder.

1.) Hallo Germar, wie ist dein heutiger Tag verlaufen?
Da heute ein Wochentag ist, war er von meiner Arbeit bestimmt. Ich habe heute hauptsächlich Entwürfe für einen Graffiti-Auftrag erstellt. Das ist gut verlaufen, ich bin sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Mal sehen, was der Kunde dazu sagt …

2.) Da klingt durch, dass du in deinen Auftragsarbeiten nicht wirklich frei in deiner künstlerischen Entfaltung bist. Wie siehst du die Beziehung zwischen Graffiti-Kunst und dem freien Entfalten deines künstlerischen Wirkens?
Oh, gleich so eine komplexe Frage zum Einstieg! Graffiti ist in seiner Ursprungsform schon sehr frei. Die kulturelle Entwicklung der Szene brachte dann ihre eigenen Regeln und Codes mit sich, die – wie auch in anderen Subkulturen trotz des Anspruchs der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen – gerade in Gruppierungen viele Regeln mit sich gebracht haben. Das fängt an bei der Art, wie man Buchstaben malt, bis hin zu Verhaltensregeln. Freiheit als eigentliches Konstrukt ohne Zwänge, Formen oder Regeln, stirbt aus meiner Sicht immer dann, wenn das explorative Moment – das Neue – versucht, in einem bestehenden Umfeld Fuß zu fassen. Für Graffiti bedeutet das nach meiner Beobachtung: Willst du gefallen, dann passt du dich an. Das merke ich natürlich besonders stark in meinen Aufträgen. Das ist für mich völlig ok. Man geht einen Vertrag ein. Ich räume mir zwar inzwischen nicht mehr so viel freie Zeit wie früher ein, freie Arbeiten zu erstellen, habe dennoch viel Spaß im Spannungsfeld zwischen einengenden Vorgaben und der Fragestellung des Kunden nach einem passenden Motiv.

3.) Wie bewertest du die Auswirkungen der gesellschaftlichen und gesetzlichen Beschränkungen auf Graffiti?
Das Eine bedingt das Andere. Wäre es von Anfang  völlig legal und straffrei gewesen, die Subway Waggons in New York zu bemalen, dann hätte sich Graffiti sicherlich ganz anders entwickelt (Anm. d. Red.: New York wird als Ursprungsort des heutigen Graffiti angesehen, in dem es darum geht, mit künstlerisch gestalteten Buchstaben den eigenen Namen groß zu machen – das sogenannte „Getting Up“ als Weg heraus aus der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht der New Yorker Ghettos in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts). Von daher kann die Illegalität als Motor für die besonders explosive und in gewisser Weise kriegerische, guerillaartige Entwicklung der Graffiti-Kunst angesehen werden. Diese rebellische Art der Übernahme von öffentlichem Raum auf Zügen und Wänden, die das Ego der Ausführenden streichelt, Szenekenner:innen begeistert und Empörung unter Bürger:innen und dem Staat sorgt, ist die Ursuppe für die Auswüchse in der eutigen Zeit. Das ist aus meiner Perspektive nur eine weitere Form des Spiels zwischen Konformität und Nonkonformität. Oder vereinfacht gesagt: Da haben sich zwei gefunden, die Stoff für Heldengeschichten sind: Die Guten und die Bösen. Die Deutungshoheit, wer auf welcher Seite steht, wird nicht nur durch die beiden Seiten ausgefochten, sondern auch durch Zaungäste bewertet  – Fans, Follower, Kritiker und „Normalbürger“. Irgendwie spannend, oder? Das ist daher aus meiner Sicht das Erfolgsrezept für die Ausbeitung der Graffiti-Kultur.

4.) Kannst du über die Bedeutung von Raum und Ort in deiner Graffiti-Kunst sprechen und darüber, wie deine Werke die Wahrnehmung und Nutzung des städtischen Raums beeinflussen können?
Dazu möchte ich erst einmal klären, was ich selbst als Graffiti-Kunst ansehe und was nicht. Verzeihe mir, wenn ich mich hier in Begrifflichkeiten verliere. Aber ich finde das schon wichtig, um die in den letzten Jahrzehnten vielfältigen Spielweisen des Graffiti irgendwie einzuordnen. Wenn ich mein Schaffen betrachte, trenne ich zwischen Auftragsarbeiten, Ergebnissen aus Graffiti-Workshops und freien Arbeiten. Meine Auftragsarbeiten haben mehrere Ziele. Erstens: Der Kunde muss bereit sein, mein gefordertes Honorar zu bezahlen. Dafür muss mein Entwurf den Nerv des Kunden treffen. Das bringt zu einem gewissen Teil mit sich, dass ich Dinge entwerfe, die ich selbst nicht wirklich gut finde. Dennoch bemühe ich mich, einen Kompromiss mit mir selbst zu schließen und den Entwurf und die Umsetzung so weit wie möglich in die Richtung zu lenken, die für mich problemlos vertretbar ist, sowohl ethisch als auch künstlerisch. Das führt sehr oft dazu, dass der Kunde das Endergebnis besser als den Entwurf findet. Zweites Ziel meiner Auftragsarbeiten ist das Erreichen einer technisch und handwerklich hohen Qualität. Ich denke, das sieht man besonders in meinen fotorealistischen Arbeiten. Um hier an deine Frage anzuschließen: Diese Werke haben die Aufgabe, den umgebenden Raum oberflächlich aufzuwerten. Es geht um das Image des Auftraggebers. Graffiti-Workshops – gerade die mit Jugendlichen – haben eine andere Aufgabe, den umgebenden Raum zu beeinflussen. Hierbei beschäftige ich mich thematisch mit den Dingen, die die Jugendlichen interessieren. Das versuche ich in ein in sich geschlossenes Gesamtkonzept zu transferieren. Oft kommt es bei den Workshops auch vor, dass der Träger der Veranstaltung oder die Einrichtung, die die Flächen zur Verfügung stellt, ein Thema vorgibt. Beispielsweise „Sport“ für eine vereinseigene Turnhalle. Dann ist es spannend, Motive zu entwickeln, die die Teilnehmenden sich selbst zutrauen und die sie auch mit dem Thema verbinden. Hier bin ich nur Impulsgeber und Coach für die Umsetzung – der notfalls selbst malt, wenn die Teilnehmenden am Limit ihrer Fähigkeiten angelangt sind. In diesen Szenarien hat das Ergebnis die Aufgabe, den öffentlichen Raum so zu beeinflussen, dass nicht die handwerkliche Leistung, sondern die dargestellten Inhalte die Angehörigen und die Teilnehmenden selbst stolz macht. Zusätzlich sollen die Flächen oft aufgewertet werden – vom Schandfleck zum Hingucker. Meine freien Arbeiten werfen im öffentlichen Raum oft Fragen auf. Früher haben sie teilweise auch schockiert oder Empörung gesorgt. So habe ich in Aurich mal zu Ostern einen Hasen gemalt, der den am Kreuz genagelten Jesus die Kronjuwelen mit einem Messer abschneidet. Für mich war das Kritik an der Vermischung der Feste verschiedener Religionen zu einem heutzutage von Konsum geprägten Fest. Ostern wurde schon im alten Ägypten gefeiert. Die Kirche hat es gekapert für die Jesus-Story. Und dann noch dieser Hase! Ist schon ein bisschen durcheinander, oder? Gerade als kritischer Jugendlicher hat mich das ziemlich gereizt. Das Bild musste vom Hausmeister des Kaufhauses, das die Fläche als Hall Of Fame zur Verfügung gestellt hat, übermalt werden. (Anm. d. Red.: Eine Hall Of Fame ist eine legale Möglichkeit, an der die Graffiti-Künstler.Innen sich ausleben dürfen. So eine Möglichkeit gab es lange Jahre in Aurich bei der dort ansässigen Kaufhauskette „Kaufhalle“). Meine eigene, freie Graffiti-Arbeit dreht sich um das Stylewriting. Wie verbessere ich meinen Style? Wie kann ich meine Buchstaben noch mehr tanzen lassen? Zusätzlich finden Themen, die mich beschäftigen, künstlerischen Ausdruck. Das kann politisch, privat bzw. familiär sein, aber auch popkulturell. Das Ergebnis ist definitiv immer etwas, das das Umfeld irgendwie berührt. Es kann Fragezeichen hinterlassen, verdrängte Themen auf den Plan rufen oder vielleicht auch einfach nur glücklich machen. Die Idee, dass ich mein Umfeld ein bisschen bunter und somit auch positiver gestalten kann, sagt mir sehr zu.

5.) Also proklamierst du für deine Arbeiten nicht, dass sie als Graffiti bezeichnet werden können – eine Kunstgattung, die Akt des Widerstands oder der Subversion gegenüber etablierten Normen und Autoritäten sein will?
Nein, denn sie sind keine illegalen Arbeiten. Damit haben sie mit dem eigentlichen Graffiti-Begriff nichts gemein. Ich kann in meinen Werken zwar inhaltlich Widerstand ausdrücken, Missstände anprangern und den Finger in die Wunde der westlichen Zivilisation legen. Solange es auf einer für die Bemalung freigegebenen Fläche ist, bleibt es nichts weiter als ein Ausdruck des Einverständnisses zwischen den Fördernden und den Künstlern. Legales Graffiti ist schon sehr etabliert. Dennoch kann ich den Gedanken hinter der Subversion von illegalem Graffiti nachvollziehen. Lass mich das mal weiter durchdenken… Einstellungen wie „Ihr schreibt mir nicht vor, wo ich meinen Abdruck hinterlasse.“ oder „Ich nehme mir die Freiheit, hier an dieser Stelle etwas hinzusetzen, das nur mich betrifft – in aller Öffentlichkeit!“ sind in der illegalen Graffiti-Szene der Standard. Der Antrieb ist nicht selten das Gefühl von Macht und damit einhergehend die Freiheit, die Welt etwas nach den eigenen Vorstellungen zu formen. Man will dem Umfeld den eigenen Stempel aufdrücken, mit großem Widerstand gegen die Strafverfolgung. Und das fehlt bei meinen Arbeiten völlig. Daher spreche ich bei meinen freien Arbeiten vom Stylewriting, wenn ich Buchstaben male. Oder von „Mural Art“ – also großflächige Fassadenkunst – wenn ich figurativ male. Oft verbinde ich beides miteinander. Wenn ich sage, ich mache Graffiti, dann will ich die Außenstehenden nur darüber in Kenntnis setzen, dass die Spraydose mein Werkzeug ist. Nicht aber, dass ich nachts illegal etwas ansprühe. Übrigens sind viele Graffiti-Künstler:innen der Auffassung, dass sie keine Künstler:innen sind, sondern dass sie Graffiti machen. Für sie ist Graffiti keine Kunst. Und damit haben sie recht. Denn ob etwas Kunst ist oder nicht, wird von drei Komponenten bestimmt: Erstens die ausführende Komponente, die Künstler:innen, die einen künstlerischen Anspruch haben. Zweitens der Ort, an dem die Kunst gezeigt wird. Er muss exponiert sein und dafür gedacht, dass hier Kunst erlebbar ist. Das ist klassischerweise ein Museum, kann aber auch eine Outdoor-Fläche sein, oder nur eine Leinwand. Die dritte Komponente ist der Empfänger: die Menschen, die sich mit der Kunst auseinandersetzen. Sind alle drei Aspekte sich einig, kann man allgemein von Kunst reden.
Graffiti findet im urbanen Raum statt. In ländlichen Gefilden spielt es für die kulturelle Entwicklung kaum eine große Rolle. Kannst du etwas über die Auswirkung von Graffiti bei der Schaffung und Erhaltung kultureller Identität und Gemeinschaftssinn erzählen, insbesondere in urbanen Umgebungen? Meine Erfahrung ist, dass das illegale Malen schon sehr stark zusammenschweißt. Und gerade im Zusammenhang mit der Graffiti-Szene erinnere ich mich gerne an die Zeit zurück, als ich in Hannover, Hamburg oder in Bremen Wegbeschreibungen über Tags, Bombings oder Pieces ausgetauscht habe. (Anm. d. Red.: Tags sind handschriftliche Signierungen bzw. kunstvoll geschwungene Namen, geschrieben mit Edding oder Spraydose, von Szene-Außenseitern als sinnlose Schmierereien abgestempelt. Bombings sind großflächige, einfach und gut leserlich gesprühte Buchstaben oder Objekte. Pieces sind farblich und formal aufwändig gestaltete Schriftzüge.)
Graffiti als Wegweiser! Ich meine, die Dinger fallen oft nur den Menschen auf, die Graffiti als Teil ihrer eigenen erlaubten Wirklichkeit wahrnehmen. Jemand, der nichts mit Graffiti am Hut hat, würde jemals den Satz sagen: „Biege beim großen grünen 1UP-Bombing links ab und dann beim dritten OZ-Tag wieder rechts.“ Wer das nicht kennt, hat kein Bild davon, wie sehr diese Ausdrucksform den Teil einer ganzen Generation geprägt hat – hier in Europa im engen Zusammenhang mit Breakdance und Hip Hop Musik. Graffiti hat Einzug gefunden in sämtliche Lebensbereiche. Seien es Aufdrucke auf Shirts, Rucksäcke oder auch Busse. Schau dich mal bei Plattformen wie dafont.com um. Hier kannst du verschiedenste Schriftarten herunterladen. Dort gibt es eine Kategorie, die Graffiti heißt! Aus unserer Zivilisation ist Graffiti, Kunst aus der Dose, Stylewriting, Mural Art, Urban Art oder wie auch immer man es nennen will, nicht mehr wegzudenken.

6.) Wo siehst du deinen Beitrag? Wie beeinflusst dein Schaffen die Wahrnehmung von Graffiti in der Öffentlichkeit?
Meine Erfahrungen sind immer die gleichen: Alle bewundern die Werke und sind sich unabgesprochen einig: „Das sieht richtig toll aus, nicht wie das Geschmiere, was man sonst immer so sieht.“ Was soll ich dazu sagen? Ich habe Erfahrung mit beiden Ausdrucksformen. Dadurch, dass ich schon seit über 20 Jahren kein illegales Graffiti mehr mache und handwerklich ganz passabel arbeite, sind meine Bilder natürlich dazu geeignet, eine höhere Akzeptanz für Kunst aus der Dose aufzubringen. Ich kann in solchen Momenten natürlich nicht ausrollen, woher meine Kunst kommt und dass das Etablierte nicht ohne das Subversive entstanden wäre … Aber ich will ja auch noch Zeit zum Malen behalten. Und meistens wollen die Menschen nur ihre eigene Bewertung abgeben … ihre Denkweise nach außen stellen. Das ist im Grunde ein politischer Vorgang. Da schlagen dann zwei Herzen in meiner Brust. Einerseits denke ich „Wie willst du das denn beurteilen, Erna?“ Andererseits denke ich mir, wenn ich solche positiven Gefühle erzeuge und vielleicht auch mal einen Denkanstoß in die Welt um mich herum geben kann, dann ist das eine tolle Sache und mehr als viele Andere in ihrem Leben machen. Dadurch wird aber die Akzeptanz von illegalem Graffiti hier bei uns nicht größer. Es ist und bleibt das unerlaubte Beschmieren von privatem oder öffentlichem Eigentum. Und das ist laut Gesetzgeber eine Straftat.

7.) Danke dir, ein schönes Schlusswort!

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